Das Kreuz mit dem Kreuz

Erstaunliche Erkenntnisse - für Ärzte in einer Studie aufbereitet



"Bei Rückenschmerzen setzen Ärzte auf bildgebende Verfahren und verordnen Analgetika [Schmerzmittel]. Genau das sollten sie vermeiden, schreiben Autoren in einer Lancet-Reihe. Was Orthopäden stattdessen tun sollten, verraten sie nicht – ein Lehrstück aus dem Elfenbeinturm." *

So beginnt der Artikel mit dem schönen Titel "Lancet-Studie: Rutsch mir den Buckel runter".

Er fasst eine Serie aus einer der ältesten medizinischen Fachzeitschriften (The Lancet) zusammen, die den Ärzten den Umgang mit "Ich hab' Rücken"-Patienten erklärt.

Jeder hat mal "Rücken" - tiefe, unspezifische Schmerzen im Kreuzbereich. Daran ist erstmal nichts Ungewöhnliches, und vielleicht verschwinden sie wieder von selber. Manchmal nicht, dann gehen die Rückenproblematiker zum Arzt, der sie meist erstmal durch die bildgebende Diagnosemaschinerie schickt.

In eher seltenen Fällen ist das Ergebnis gleich null: keine Ursache nachzuweisen. Dann sind sowohl Patient als auch Arzt ein bissele verzweifelt: Wo nix ist, kann nix weh tun? Nur Einbildung? Die Angst, als "Psycho" abgestempelt zu werden, ist nicht ganz unberechtigt. So ein Patient ist "lästig", genervt von den anhaltenden Problemen wünscht er sich dringend Linderung. Er wird das Gespräch suchen, um Lösungen zu zu finden. Das kostet Zeit. Und das Wartezimmer ist doch voll!

Irgendwas lässt sich aber trotzdem meistens aufspüren. Ob das Befundbild in tatsächlich in ursächlichem Zusammenhang mit dem Beschwerdebild steht? Wird nicht oft laut gesagt: Aber nix genaues weiß man nicht. Es gibt Studien, in denen schmerzfreie(!), mittelalte Personen Bandscheibenvorfälle zeigten, bei denen sie vor Schmerzen plärren müssten. Trotzdem wird die gesehene "Ursache" gerne operativ beseitigt.

Klar, in einigen Fällen ist es dringend nötig zu handeln. Es ist immens wichtig festzustellen, ob eine ernsthafte Erkrankung dahinter steckt, um gegebenenfalls geschwind zu reagieren. Die Ärzteschaft nennt das "Red Flags". Wir Heilpraktiker begnügen uns altmodisch mit "Notfall".

Zum Beipiel könnten Brüche in der Wirbelsäule sitzen oder Tumoren. Quetscht ein Bandscheibenvorfall das untere Rückenmark zu sehr, kann es zu Lähmungen kommen, fallweise kombiniert mit Inkontinenz und massiven Sensibilitätsstörungen - ein akutes Notfallgeschehen, bei dem sofortige operative Entlastung des Rückenmarks angezeigt ist, um Spätschäden zu verhindern. Oder weisen die Schmerzen auf eine rheumatische Erkrankung hin, die sich in der Wirbelsäule breit macht?

„Es ist wichtig, Allgemeinärzte und Orthopäden besser über die Warnsignale für mögliche schwerwiegende Erkrankungen bei Rückenschmerzen zu informieren“

schreibt Joachim Sieper, Rheumatologe an der Charité-Universitätsmedizin Berlin und einer der Autoren des ersten Lancet-Beitrags.

Echt? Aber die haben doch studiert?

Könnte ein Heilpraktiker-Anwärter diese Zeichen nicht aufzählen, würde er durch die Prüfung rasseln. So weit von der Realität entfernt - wie man naiverweise annehmen könnte - sind solche Forderungen leider nicht:

Eine Patientin leidet über ein Jahr an heftigen Kreuzschmerzen, bis sie doch einmal auch gynäkologisch abgeklärt wird. Die dicke Eierstockzyste wurde entfernt. Und damit die Rückenproblematik.

Weniger glücklich im Ausgang der Fall einer anderen Dame, Brustkrebspatientin: einige Jahre nach Entdeckung, OP, Bestrahlung und Chemo folgen Kreuzschmerzen. Auf die Idee, nach Metastasen in der Wirbelsäule zu suchen kam ihr Orthopäde nicht. Diese wurden erst entdeckt, als schon final palliativ versorgt wurde.

(Beide waren mir näher bekannt, nicht meine Patientinnen.)


Sollten Ärzte da wirklich mal zum Äußersten greifen?

„Stattdessen sollte sich der Arzt für den Patienten Zeit nehmen, mit ihm sprechen und ihn sorgfältig untersuchen – also zum Beispiel den Rücken anschauen und auch anfassen“

fordert Sieper. Anfassen... Ja, puh, anfassen, das ist schon harter Stoff.

Und ich meine, nicht nur den Rücken. Auch die Füße und das Becken und das ganze Gestell. Muskel-Faszienverhärtungen - meiner Erfahrung nach eine sehr häufige Ursache - sind halt leider nur zu ertasten. Mit den Fingern am Patienten.

Man könnte den Patienten konkret nach Stürzen fragen. Senioren halten sich da gerne schamhaft bedeckt ;) Auch eine chronische Verstopfung kann mal fies am Kreuz ziehen. Morgensteifigkeit, Erschöpfung? Schlaf? Blutbild? Rheuma? Vorerkrankungen (siehe Brustkrebs)? Chronische Lungenerkrankung oder Beatmung? Dabei wird die Atemhilfsmuskulatur stark beansprucht, der Schultergürtel kommt dann fast immer recht verspannt daher und beeinflusst die Etage tiefer - den Kreuzbereich - meist unangenehm mit.

Welche Belastungen muss genau dieser Rücken des Patienten vor mir aushalten? Was arbeitet dieser Mensch überhaupt? Und wie? Wie liegt, sitzt, geht er? Welche und wie viele Bewegungsmuster hat er in petto? Will er sich überhaupt gerne bewegen? Oder lieber gar nicht wegen Unlust, Schwindel, Sturzangst, Herzschwäche...? Was hat er schon versucht, um die Schmerzen zu reduzieren? Sonstige Belastungen seelischer Art? Familiär (Stichworte "pflegende Angehörige", Scheidung o.ä.)? Im Beruf?

Das ist nur eine kleine Auswahl an möglichen Fragen.

Oft ist die Schmerzmittelverordnung das (ärztliche) Mittel der Wahl. Werden die "User" gut angeleitet, aufgeklärt und begleitet und ist die Einnahmedauer begrenzt, ist dagegen nichts einzuwenden. Aber auch hier sehe ich in der Praxis nicht selten Defizite. Ja, manche Schmerzmittel gehen auf den Magen, sagen die Patienten. Aber dafür bekämen sie ja Magenschutz. Dass die Magenschutztabletten auf Dauer zu einer Anämie führen können, hören manche zum ersten Mal (weniger Magensäure, weniger Eisenaufnahme aus der Nahrung). Ibuprofen und Pantoprazol sind ohne Rezept in den Apotheken erhältlich und werden manchmal über Jahre (!) hinweg konsumiert. Wissen die Hausärzte das? Wie viele Ärzte wagen die Frage bezüglich Schmerzmittelkonsum, vielleicht sogar  Abhängigkeit? Und sehr viel stärker wirksame Opiate? Die machen abhängig. Kann unter Umständen palliativ in Kauf genommen werden, vorausgesetzt, die Betreuung stimmt. Die Krankenkassen würden sogar das fast immer nötige Abführmittel (z.B. Movicol) bezahlen. Dazu müsste es aber rezeptiert werden. Und der User dürfte schon informiert sein, dass sich sein Darm gerne mit schlafen legt. Und haben sie schon mal eine Mittachzigerin auf Cold Turkey erlebt?

"Auch Wirbelsäulenoperationen halten sie [die Autoren der Studie] wegen geringer Effekte nur in wenigen Fällen für hilfreich."

Wenn operiert wird, vermisse ich oft Vorschläge, was der Patient nachher tun kann, dass es nicht wieder schlimm wird: also die Arbeit an den Voraussetzungen, die zum Schaden geführt haben.

Ich finde, es grenzt an Satire, wenn die Empfehlung in der Studie lautet, die Patienten eben nicht "passiven Behandlungsmaßnahmen" zuzuführen. Sie würden so in eine Art "Opferrolle" geschoben. Konkret genannt wird hier unter anderem Massage, die meiner Erfahrung nach bei Verspannungsrückenschmerz meist hilft. Zudem kann sie den Patienten befähigen, wieder mühelose Bewegungsmuster auszuführen, wenn's weniger klemmt. Fällt Physiotherapie auch darunter? Ist "Bewegungsschulung" egal ob von Heilpraktikern oder Krankengymnastik "passiv"? Oder nicht eher die geforderte "Bestätigung der Selbstwirksamkeit" ?

Zu guter Letzt schenke ich den "Halbgöttern in Weiß" noch eine Frage, zu stellen an den Patienten mit Kreuzschmerzen: "Wo genau tut's weh?". Sie werden überrascht an sein, wie verschieden und unglaublich "das Kreuz" verortet wird. Und wenn's in der Brustwirbelsäule der alten Damen sitzt, das Kreuz, wär's prima, wenn nur der BH dauerdrückend Schmerzen bereitet. Besser als ein Herzinfarkt... 

Herzliche Grüße,
Manuela


Quelle: http://news.doccheck.com/de/211787/lancet-studie-rutsch-mir-den-buckel-runter/

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© 2022 Manuela Bößel * tangofish