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Statt einer Begrüßung schmettert mir Pablo entgegen:
»!!!DU MUSST!!! AUCH REIKI!!! LERNEN!!!! UN!BE!DINGT!!!!!«
Ich sammle die flüchtende Katze sowie einige herabgefallene Ausrufezeichen ein und schließe die Tür. Das Tier windet sich panisch in meinen Armen. Bevor es mir sein Hinterteil ins Gesicht stempelt, schubst mein Popo die Tür beherzt ins Schloss. Ich lasse die fliehwütig gesträubte Katze fallen und folge Pablo in die Küche, wo er schon an der Kaffeebereitung arbeitet.
Wieder einmal hat mein spirituell-achtsamer alter Freund ein Seminar besucht – seit Corona geht sowas auch online – was seine Begeisterung nicht schmälert. Das kenne ich schon: Wenn die Geister, die er sich dort geholt hat, mit der Verblassung im schnöden Alltag beginnen, wird der Gute wieder erträglich – genauer gesagt nach den Phasen Euphorie, Umsetzungs- inklusive Missionierungsversuchen und der Enttäuschung darüber, dass seine Kurse nicht laufen. Also kein Grund zur Sorge.
Heute steckt er bis Oberkante Unterlippe in Phase 1 (Euphorie). Da ist er für gewöhnlich genau so wenig zu bremsen wie Katze Frida im Freiheitsrausch: Ich lasse ihn reden. Und Kaffe machen. Aktionspotential ausleben.
»Reiki ist DIE universelle Lebensenergie! Die kannst du ganz einfach in dich hineintanken! Total cool! Rein, durch dich durch und dann – handauflegerisch – in deine Klienten fließen lassen! Wie ein aufgedrehter Lebensgeister-Stärkungs-Wasserhahn!«
Zu viele Ausrufezeichen, zu viele verschüttete Kaffeebohnen. Dieser Satz kein Verb. Wozu auch? Braucht er gewöhnlich nicht, so lange er sich im Verkündungsmodus bewegt. Vielleicht sollten wir Hand auflegen mit Handstaubsaugen ersetzen? Ich nippe vorsichtig an der Kaffeetasse.
»Was meinst du mit universeller Lebensenergie? Dein kaffeeähnliches Gebräu BELEIDIGT meine Lebensgeister.«
Ich schiebe Pablo zum Küchenhocker, pflanze ihn nieder und entsorge die Kanne transparent-hellbrauner Brühe im Abguss.
»Prana, Chi, Spirit, Heiliger Geist... DAS Geheimnisvolle eben, was den Unterschied ausmacht zwischen tot und lebendig.«, tönt es vom Hocker. Gut, die Ausrufezeichen nehmen ab. Jetzt kann man normaler mit ihm reden – wobei die Definition von normal bei Pablo einen gewissen Freak-Faktor berücksichtigen muss.
Wir wechseln zum Sofa. Katze Frida spielt Unsichtbarsein, wobei ihr die minimalistische Topfpflanze nur bedingt hilft.
Diese Lebensenergie-Idee ist mir nicht fremd: Bei manchen Wesen spüre ich mehr, bei anderen weniger. Mein minimalistischer Ficus zum Beispiel hat ein deutliches Defizit. Und irgendwas fließt spürbar durch meine Hände, wenn ich meine Patienten berühre. Könnte auch Einbildung sein, aber irgendwie scheint das gutzutun, zu beruhigen, zu entspannen. Manche schlafen dabei ein. Es kommt sogar regelmäßig vor, dass die Katze(n) meiner heilpraktischen Hausbesuchspatienten sich dazu kuscheln und schnurren. Auch in der Pflege hatte ich mir angewöhnt, mich beim Berührkontakt auf dieses merkwürdige warm Fließende zu konzentrieren – einfach weil es die Menschen anscheinend vegetativ herunterfährt. Puls und Blutdruck sinken, die Sauerstoffsättigung steigt, die Muskulatur entspannt, die Atmung vertieft sich und der Darm gluckert zufrieden. Manchmal erlöst ein Seufzer aus tiefer Seele den Drama-Belastungsknoten aktueller Probleme. Erzählt habe ich natürlich niemandem davon. Da wirst du schneller in der esoterisch-unseriösen Ecke geparkt, als du kucken kannst!
»Ja, das meine ich! Das kennst du! Wusst ich`s doch!«, bestätigt mir mein spiritueller Freund. Neugierig blitzen zwei Katzenaugen – inzwischen schon neben dem Blumentopf. »Und weißt du, was das Beste ist?«
Viele, wenn nicht sogar die meisten, die mit Menschen arbeiten, kennen das Gefühl des ausgelutscht Seins. Dieses Empfinden kann ein Klient verursachen, der sich an dich dranhängt wie eine vampirische Energie-Zecke. Manchmal verteilen wir Achtsamobersuperreflektierten auch Energie aus dem Reservoir, das nur für uns selbst vorgesehen ist, weil wir es so gut meinen und uns so stark wähnen. Dann wundern wir uns irgendwann über Erschöpfung oder ignorieren selbige – wenn`s sein muss bis zu Burnout, Bluthochdruck, Rückenschmerzen, Bauchweh, Schlafstörungen oder was auch immer. Und weil ein Konzept der inneren Haltung meist in allen Lebensbereichen benutzt wird, liefern wir unsere kostbare Eigen-Energie ebenso gerne im privaten Umfeld aus. Gelernt ist gelernt! Da nutzt die beste Resilienzfortbildung nur begrenzt. Der Verstand wüsste ja, wie es geht und kann prima darüber parlieren. Nur bestehen wir halt nicht nur aus Verstand.
Zart streicht Frida mir um die Beine, schnüffelt vorsichtig an Pablos Hosenbein. Dann drapiert sie sich wie hingemalt zwischen die Sofakissen – allerdings in größtmöglicher Entfernung zu unserem Besucher.
Pablo erklärt mir, während er Achten in seine Kaffeetasse rührt, dass Reiki irgendwie aus dem Göttlichen komme. Von welchem Himmelsvertreter speziell, wisse er auch nicht genau. Auf jeden Fall von oben. Welches Oben, dürfe man mit Hilfe des eigenen spirituellen Hintergrund selbst definieren. An meiner Zimmerdecke sehe ich zu viele Spinnweben.
»Du betest beim Reiki-Praktizieren ja niemanden, schon gar nicht im Speziellen, an. Eine Höchste Erschaffungswesenheit, die Leben einhaucht, leugnet ja nicht einmal die katholische Kirche. Wobei – manche Kirchenvertreter bezeichnen Reiki als Teufelszeug. Die meinen, man geistheilt wie Jesus. Aber das tut man ja gerade nicht! Nicht DU heilst wie der christliche Gottessohn, sondern die ENERGIE, die DURCH DICH durchfließt. DU bist nur der KANAL.«
Aha.
Beruhigt streiche ich in meiner Gedankenwolke die in orangefarbene Tücher gewandeten Barfußverfolger Pablos. Die Reikiszene ist wohl keine Sekte. Trotzdem vibriert mein interner Guru-Warn-Detektor auf niedrigem Niveau (Stufe 2 von 10).
»Reiki ist nicht nur das Anwenden, sondern eine Lebenshaltung!«
Der Guru-Warn-Detektor klickt auf 5, begleitet von einem Hauch Räucherstäbchenduft. Frida merkt auf.
»Es gibt fünf Lebensregeln:
1. Ausgerechnet heute: Ärgere dich nicht.
2. Ausgerechnet heute: Sorge dich nicht.
3. Ausgerechnet heute: Sei dankbar.
4. Ausgerechnet heute: Verdiene dein Geld ehrlich.
5. Ausgerechnet heute: Sei freundlich zu allen Lebewesen.«
Er lehnt sich im Sessel zurück und blickt mich erwartungsvoll an.
»Das kommt doch total glaubensrichtungs-kompatibel daher, gell? Und genial einfach.«
Ja, zweifellos, simpel, vernünftig und in den Alltag integrierbar, wenn auch nix grundlegend Neues. Mir gefällt besonders das Ausgerechnet heute... Das beschränkt den Erleuchtungsversuch auf einen Tag. Das könnt grad schaffbar sein. Die Katze dreht sich auf den Rücken und präsentiert ihren Bauch zur wohligen Kraulung.
»Zusätzlich: Falte die Hände jeden Morgen und Abend in Meditation und bete von Herzen. Denke mit deinem Geist und spreche mit deinem Mund. Das ist die geheime Kunst, das Glück einzuladen. Die wunderbare Medizin für alle Krankheiten. Zur Verbesserung von Geist und Körper...«
Das klingt schon mehr nach der Spiritualitäts-Marketing-Kiste. Bestimmt kommt jetzt gleich noch ein Satz mit »Mögest du...«, was meine schon erwähnte Intoleranz bis 7 oder 8 triggern würde. Drum unterbreche ich seinen Sermon:
»Pablo! Solche Formulierungen wachsen doch nicht auf deinem Mist! Spuck`s aus:
»Doktor Usui Mikao. Oder Doktor Mikao Usui. Mikao ist auf jeden Fall der Vorname. Japaner.«
Das erklärt Pablos kirschblütenbedrucktes Hemd und den akuten Verlust seines Kaffeekoch-Talents.
»So genau weiß man das alles nicht, ist ja auch schon urlang her.«
Mein alter Freund erzählt mit glänzenden Augen die Legende, die sich um Herrn Usui rankt, Doktortitel fraglich. Er habe sich mit Heilungsenergien befasst, die dem chinesischen Qigong ähneln, was ihn aber nicht zufriedenstellte. Diese Methoden schluckten seine eigene Energie: die altbekannte Therapeuten-Bredouille!
Also studierte er – auf der Suche nach einer Lösung – Psychologie, Medizin und alle Weltreligionen. (Alle? Alle. Das geht, ist ja eine Legende.) Frustriert darüber, dass dieses Anheizen seiner Hirnwindungen ebenfalls nicht fruchten wollte, verzog er sich in Klausur. Auf einen Berg. Allein. Fastend. Meditierend. Wie es sich für einen weisen Mann gehört.
Das erschöpft ziemlich, und so begab es sich, dass unseren Meister Usui eine Vision erwischte. So erhielt er Symbole: geheime, heilige Zeichen, die sich in seinem Inneren einnisteten. Das flashte ihn derart, dass er erst mal ohnmächtig wurde.
Wieder bei Sinnen fühlte Meister Usui sich so beschwingt und energiegeladen, dass er Reiki erfand: Eigen- und Fremdheilung durch Handauflegen.
Die Armen und Kranken der Elendsviertel kamen als erste in den Genuss, dem neuen Meister zu einem besseren Verständnis seiner Methode zu helfen. Ob selbige als Versuchskaninchen herhalten durften oder ob Herr Usui aus Menschenliebe handelte, ist nicht überliefert.
Später reiste er durch die Lande, heilte und aktivierte bei Interessierten den Zugang zu Reiki, dass sie sich auch selber – quasi expertenlos! – helfen konnten. Auf Reiki-Klinik- und Reiki-Gesellschaftsgründung folgten Reiki-Einweihungen von Reiki-Meisterschülern, die das Reiki-System auf der ganzen Welt verteilten. Klar, man kann ja nicht ständig alleinigselbst Kanal sein. Ein Tag hat auch für spirituelle Meister nur 24 Stunden.
»Apropos Zeit! Mamas göttlicher Schweinebraten wartet! Mit Knödeln!«
Pablo rupft zwei Margeritenstängel aus meiner Vase.
»Ausgerechnet heut`: Sei dankbar! Schau, wie ich Reiki schon in mein Leben integriert habe! Voll gut!«
Eher vermute ich die gelungene Integration von Mama Rosalies Kochkünsten. Er packt seine Reiki-Fan-Schildmütze und flitzt zur Tür. Mein nachgeworfenes STOPP! lässt ihn in der Bewegung einfrieren. Ich nehme Pablo meine Tatort-Tasse aus der Hand, gerade noch bevor er den Rest Kaffee in den Blumentopf kippt.
»Ciao!« Und fort ist er. Manchmal bin ich ganz schön neidisch. Soviel geballte Begeisterung...
Und ich sitze mit der Katze daheim und finde keinen guten Schlusssatz.
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