Die Polyvagal-Theorie für Einsteiger

Das autonome Nervensystem im Alltag aus Sicht der Polyvagal-Theorie - eine Einführung und Gebrauchsanleitung für Einsteiger

Jetzt ist es mal wieder soweit: Ich sitze am Schreibtisch und ringe um den ersten Satz. Mein Hirn bockt lethargisch wie ein Pubertand, der sein Zimmer aufräumen soll. Uns - also mein Verstand und den Teenager - eint die Tatsache, dass uns die Situation gewaltig stresst. Ja, ich weiß, der Jungmensch würde cool von "nerven" sprechen, was aber die selbe neurophysisch-psychische Reaktion auslöst, nämlich ein Abtauchen in dumpfe Sümpfe der Apathie. Ich meine diese Zustände, in denen man schaut wie ein Auto und eine leere Gedankenblase über dem Kopf schwebt. Mir ist kalt, ein bissel schwindelig und trübe im Gemüt. Es fällt mir schwer, die Buchstaben am Bildschirm zu fokussieren. Ich schleiche in die Küche, fühle mich sooo allein und bemerke, dass ich vergessen habe, was ich eigentlich dort wollte. Auf die Idee, noch einen Kaffee zu kochen, komme ich nicht, sondern starre nur blöde meine leere Tasse an.

Der Paketbote klingelt. Der Schrecken fährt mir durch die Glieder, reißt mich aus meinen zähen Gedanken. Herzklopfen! Ich springe auf, öffne die Tür, nehme das Päckle entgegen - Grrr! Wieder für die Nachbarin! - und ... koche mir eine zweite Portion Kaffee.

Unser Präerwachsener amöbt sich aus seinem Sitzsack und beginnt fluchend seine Stinkesocken einzusammeln, nachdem seine Aufseher das WLAN abgestellt haben und ihm das - Grrr! Ohne anzuklopfen! - mitgeteilt haben. 

*** Pause ***

Ich puste in meinen heißen Kaffee - Trinken und Tippen gleichzeitig geht nicht - und denke an dich. Für DICH schreibe ich diesen Artikel schließlich, stelle mir vor, wie du neben mir auf dem Sofa sitzt und über meine Verspultheit schmunzelst. Vielleicht kann dir der Text sogar zu mehr nachsichtigem Selbstverständnis verhelfen? Dass du dich - vielleicht? - ein bissle weniger für deine unerklärlichen, eigenartigen Verhaltensweisen und Symptome schämst? Das malt mir ein Lächeln ins Gesicht. Entspannung und Wärme fließen vom Nacken den Rücken hinab. Der Nebel im Hirn löst sich peu à peu in Wohlgefallen auf, und ich habe wieder Zugriff auf meine Kreativitätsbox.

So ist es viel einfacher, dir von unserem autonomen (= vegetativen) Nervensystem zu erzählen, meinem momentanen Hobby ;) Besonders interessant finde ich, dass sich nicht nur unsere rein körperlichen Reaktionen und Empfindungen, sondern auch unsere Gefühlswelt, die Wahrnehmung und unser Denken verändern. Das geht soweit, dass wir eine reale Situation, abhängig von unserem vegetativen Modus, völlig verschieden erzählen.


Neurozeption

Täglich reisen wir in unserem Vegetativ-Universum rauf und runter, abhängig von den Fragen: Ist alles sicher? Befinden wir uns in Gefahr? Oder sogar in Lebensgefahr? Dann fährt das vegetative Nervensystem uns ohne unser Zutun in einen - aus seiner Sicht - passenden Zustand. Das ist völlig normal. 

Was aber wirklich verstören kann: Die Interpretation von Signalen aus der Umgebung, die Einschätzung des Gefahrenpotentials und die folgenden vegetativen Zustandsänderungen passieren unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Das bedeutet, dass dein Körper schon reagiert, bevor dein Verstand überhaupt mitbekommt, was da los ist. Ist auch gut so, da unser Verstand in Gefahrensituationen zu langsam tickt. Das hat uns die Evolution netterweise so eingerichtet, sonst wären wir schon längst ausgestorben.

Unser autonomes Nervensystem tut alles, um uns zu beschützen. Es aktiviert uns, wenn Gefahr besteht. Ist diese vorüber, reguliert sich selber wieder ein - vorausgesetzt, wir stören es nicht all zu sehr dabei. 

Es nutzt zur Wiederherstellung der Balance aber immer bestimmte Wege, eine bestimmte Hierarchie, die in der Polyvagal-Theorie fein beschrieben sind: Den Sympathikus mit "Kampf- oder Flucht"-Verhalten kennen wir ja schon. Der Vagus, also der parasympathische Anteil unseres autonomen Nervensystems, besteht nach neuerer Forschung aus zwei Anteilen, dem ventral-vagalen "Wohlfühlteil" und dem dorsal-vagalen "Erstarrungsteil" . (Stephen W. Porges) 

Stellen wir uns eine Treppe vor, dann wäre ganz oben die ventral-vagale Stufe, in der Mitte der Sympathikus und ganz unten der dorsal-vagale Stiegenabschnitt, was ich weiter unten im Einzelnen beschreibe. Und auf dieser Hierarchietreppe lässt uns das Vegetativum situationsabhängig hinauf und hinunter gehen. Abkürzen geht nicht. Ganz wichtig: Ob und wann etwas als Gefahr gewertet wird, ist bei jedem Menschen anders. Wann wir in welche Richtung steigen, ist auch individuell.


Ganz unten: der dorsovagale Anteil

Das ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Anteil unseres vegetativen Nervensystems, den wir mit den Reptilien gemeinsam haben: Erstarren. Den Körper auf Standby schalten. Als ich begonnen habe, diesen Artikel zu schreiben, war ich quasi mit einem Fuß ein bisschen in diesem Bereich - Hauptsymptome Dumpfhirn, Passivität, wie bei unserem Sitzsack-Teenager. 

Geraten wir wirklich in akute Lebensgefahr, fallen wir ganz hinein in diesen Modus: Dann schüttet unser Körper betäubende Stoffe (körpereigene "Opiate") aus, die schmerzstillend wirken und die Wahrnehmung soweit dämpfen, dass wir keine Angst haben. Das sind dann die Geschichten, in denen ein Verunfallter mit dem abgetrennten Fuß in der Hand, entspannt lächelnd die Sanitäter erwartet, oder ein Vergewaltigungsopfer sich nicht wehrt, sondern sich aus dem Körper beamt und an der Decke schwebend das Geschehen verfolgt.

Die Körperfunktionen werden heruntergefahren, Puls und Atmung werden extrem langsam. Da wir nicht wie Reptilien wechselwarm sind, kann uns das umbringen. (Gerade Frühgeborenen, deren autonomes Nervensystem noch nicht ganz ausgebildet ist, kann diese extrem niedrige Pulsrate und die Verringerung des Atemantriebs zum Verhängnis werden.)

Kurz: Wir werden "totgestellt", unsere Energie wird "eingefroren". Das uralte Erbe sagt: Raubtiere mögen keine Leichen essen. Die andere Chance: Täusche! Ist sich der Beutegreifer sicher, dass er dich hat, wird er vielleicht unaufmerksam! Dann kannst vielleicht doch noch abhauen?! Bleib wachsam! Wie die Maus, die der Katze entwischt...

Treppenmitte: Sympathikus

Bietet sich eine Gelegenheit, der Situation zu entkommen, wird der vegetative Schalter blitzschnell umgelegt von "standby" auf "Kampf / Flucht". Die "eingefrorene" Energie wird genutzt, um dem Bedroher eines auf's Maul zu geben oder fortzulaufen. Deswegen muss der Weg zurück zum normalen Wohlgefühl (ventralvagal, siehe unten) immer zwingend über sympathische Aktivierung laufen. Das gilt auch für solch milde Ausprägungen wie am Anfang beschrieben. Darum kann der Jugendliche aus unserer Geschichte gar nicht anders, als sich irgendwie sympathisch zu aktivieren. Ein Weg ist, die natürlich aufkommende Aggression dieses Zustands zu nutzen, um in die Gänge zu kommen. Man kann sich auch von der Klingel erschrecken lassen ;) (Es gibt noch angenehmere Strategien, um uns auszubalancieren. Dazu mehr in einem der nächsten Artikel)

Aber auch in diesem vegetativen Modus wollen wir nicht auf Dauer verharren. Ist nicht so gesund für Leib und Seele. 

  • Der neurochemische Cocktail erhöht Puls, Blutdruck, Muskelspannung. Die Bronchien weiten sich, und noch einige andere körperliche Umstellungen werden eingeleitet, um viel Energie für Kampf/Flucht zur Verfügung zu haben. 
  • Der Blick weitet sich. Fokussieren wird schwieriger. Die Empfindlichkeit für potentielle Gefahrensignale in der Mimik anderer Menschen wird verstärkt und es fällt uns schwerer, freundliche Sicherheitsmitteilungen in Gesichtern zu erkennen.
  • Sogar die Höreinstellungen ändern sich: die Frequenz menschlicher Stimmen ist hier nicht so wichtig und wird gedimmt. Dafür wird die Sensibilität für extrem hohe und tiefe Töne verstärkt. 
  • Auch unser Denken funktioniert nur eingeschränkt. Deswegen gibt es diese Wenn-Dann-Algorithmen für Notfälle. Wir sind hypervigilant, d.h. hochempfindlich für Gefahrensignale. Das kennst du bestimmt: sehr schreckhaft, zu geräusch- oder gar geruchsempfindlich, schnell genervt, ...
  • Empathie, Überblick, Lernen, Kreativität und Wohlbefinden machen Pause. 

Du siehst, es ist besser, keine weitreichenden Entscheidungen zu treffen, wenn dich der Sympathikus reitet. (Oder mit einem zornigen Pubertanden "vernünftig" zu reden.)

Dennoch: Der Sympathikus kann uns in gefährlichen Situationen vor Unheil bewahren. Und ein kürzeres Verweilen in diesem Zustand bringt uns nicht um. Bleiben wir auf Dauer dort wohnen, werden wir krank, lernresistent, ein bissel "asozial" und können Probleme nicht kreativ lösen.

Ist die Gefahr vorüber, wechseln wir dahin zurück, wo wir eigentlich daheim sind:

Ganz oben: der ventral-vagale Modus

Im Gegensatz zu anderen Tieren, die sich kurz schütteln oder die angestaute Energie nach der Gefahr abzittern und dort weitermachen, wo sie aufgehört haben, haben wir Menschen noch einen dritten vegetativen Zustand. Dann wird ein entwicklungsgeschichtlich jüngerer Ast des Parasympathikus aktiv, der uns auf "soziale Verbundenheit" einstimmt. 

Wir kommen ja recht unfertig auf die Welt, darum hängt unser Überleben davon ab, dass sich jemand um uns kümmert. Und unseren fellbekleideten Urahnen wäre es auch übel ergangen, wenn sie sich nicht zusammengetan hätten. Gemeinsam stark! Vielleicht haben darum die göttlichen Baumeister (oder wer auch immer) diesen vegetativen Modus mit einem solchen Glücksgefühl ausgestattet?

Der ventral-vagale Anteil versorgt (anatomisch) vor allem das Gesicht und das Herz und stellt das Sehen so ein, dass wir sehr viele Sicherheitssignale unseres Gegenübers empfangen und richtig interpretieren können. (Das funktioniert natürlich nur bei einem Kontaktwesen, das es wirklich gut mit dir meint. Kann auch dein Hund sein.) Die Frequenz menschlicher Stimmen hat Hör-Priorität. Erinnerst du dich, dass ich an dich denke, während ich diese Zeilen schreibe? 

Deine Herzfrequenz und Blutdruck stellen sich in den Ruhemodus, dein Körper regeneriert und kann heilen. Empathie und Kreativität kommen nun gerne zurück. Und dir fallen Lösungsmöglichkeiten ein, die vorher nicht greifbar schienen. Verbunden mit sich und der Welt, wohlig geerdet. Ausruhen! Spielen! Das Leben ist schön!


Und die Moral von der polyvagalen Geschicht':

  • Dein Vegetativum will dich schützen. Es reagiert auf Signale fehlender Sicherheit schneller, als du denken kannst. Dann leitet es Änderungen im Denken, im Körper und den Emotionen ein, dass du der Gefahr entkommst. Ist wieder "alles safe", reguliert es sich wieder in den ventral-vagalen Wohlfühl-Modus. Das passiert täglich unzählige Male automatisch und ist völlig normal.
  • Kann es kein "Ende" der Bedrohung erkennen, bleibst du dauerhaft im aktivierten Modus (sympathisch oder dorsal-vagal) hängen. Diese neurochemische Lage kann gesundheitliche Probleme wie Bluthochdruck, Reizdarm, Schlafstörungen, Burnout o.ä. begünstigen. (Dazu mehr in einem der folgenden Artikel) 
  • Die Regulierung zum ventral-vagalen Daheim muss immer durch den sympathischen Bereich hindurch gehen. Verzweifle nicht, wenn du von "erstarrt" zu "wohlig entspannt" erst eine kleine sympathische Aktivierung brauchst. Nimm statt der "Erschreck-Klingel" oder einer Ärgerung lieber einen kleinen Spaziergang.  
  • Warte in Konfliktsituationen - z.B. einem Streit - bis du (oder am besten beide) zumindest mit einem Fuß wieder im ventral-vagalen Modus angekommen seid. Wobei gegen ein wenig "sympathischen Rückenwind" ja nichts einzuwenden ist, solange ihr ventral-vagal verbunden bleibt.

Und zu guter Letzt: Du kannst lernen, dein Vegetativum so zu beeinflussen, dass es sich schneller wieder einregulieren mag. Echt! Das geht. Mehr dazu bald.

Herzliche Grüße

Manuela

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© 2022 Manuela Bößel * tangofish