Psychosomatik: Vom Fremdeln, Finden, Begreifen und Einverleiben

Fremdeln

Damals in den Neunzigern war ich im besten „Ich hab' die Welt und überhaupts alles kapiert!“-Alter, also Anfang zwanzig, im letzten Ausbildungsdrittel zur examinierten Krankenschwester und hielt mich für so(!) rational(!). Wie man halt als verbildet-arrogantes G'scheithaferl so denkt. Stolz naivgrün leuchtend bis hinter die Ohren. Schulmedizin und die aus dem Geburtskanal kriechende Pflegewissenschaft waren für mich das Nonplusultra.

Nur vage ahnte ich, dass da vielleicht noch was anderes sein könnte: „Würdevoller Umgang mit Patienten“, Menschlichkeit und solche Spompanadeln erfreuten zwar meine sozialdemokratisch sozialisierte Seele, aber eben nur im weltverbesserischen – keineswegs im gesundheitlichen Sinne.

So saßen wir Schwesternschülerinnen mit geschwollenen Hirnen auf der Sperrmülleckbank in meiner Küche, stopften uns mit Vollkornkuchen voll, und diskutierten unsere Zerissenheit zwischen Theorie und Praxis sowie den „Untergang guter Pflege“. (Jaja, schon damals! Konnten uns ja in unseren schlimmsten Träumen nicht ausmalen, wie sich das Pflegegeschäft tatsächlich entwickeln würde.)

H. war auch mit von der Partie, eine (für uns) „ältere“ Frau, die mit Ende dreißig ins Pflege-Azubifach wechselte. So lautstark und dick, wie sie daherkam, konnte ich nicht sehr viel Sympathie aufbringen, aber sie war halt unsere Klassenkameradin.

„Es ist eh alles nur psychisch! Psychosomatik!“, tönte sie in die Runde. „Stressulkus! Es heißt im Volksmund, dass Stress auf den Magen schlägt! Genau so isses!“. Sie lispelte diskret. Den Einwurf, dass Heliobacter pylori – wissenschaftlich erwiesen – ein Magengeschwür verursachen kann, ignorierte sie. Hatten wir doch letzte Stunde gelernt? Und nicht jede gestresste Person entwickle ein Magengeschwür? Wie kann das sein?

Sie erklärte uns Mädchen, dass wirklich jede(!) Krankheit nicht aus dem Körper oder sonstwoher komme, sondern nur und ausschließlich aus der Psyche! Das wäre Psychosomatik! Die Patienten und Ärzte würden das aber nicht kapieren wollen!

Auch Gallenstein, Hepatitis, Krebs, gebrochenes Bein? Im Brustton der Überzeugung pflanzt sie ein unwidersprechliches JA und zahlreiche Ausrufezeichen auf den Kaffeetisch. Psychosomatisch!

Meine Nebenfrau verschluckt sich an Bröseln, die gegenüber findet plötzlich den Deckenbalken megainteressant, und ich schweige peinlich berührt.

Für jedes Symptom respektive Krankheit gebe es eine genaue Zuordnung zu einem psychischen Problem. Dieses, z.B. sexueller Missbrauch in der Kindheit (!), müsse man ausgraben! Und aufarbeiten! Fertig! Mensch gesund! So einfach!

Mir stellten sich die Haare im Nacken auf. Das Gros der Patienten hatte doch keinen Knall! Ein paar Demente, okay, aber so psychopathologisch wie meine Klassenkameradin unterstellte, schienen mir die Kranken auf Station nun wirklich nicht. Im Gegenteil, es gab so viele Erfolgreiche, Lebenskompetente unter den Patienten, die trotzdem krank waren. Wie war das, legte man H.s Theorie zugrunde, möglich?

Außerdem waren (und sind) mir solch obsukre Kochrezept-Lösungsansätze „mit ohne“ Evidenz oder zumindest einer vernünftig-logischen Erklärung schon immer suspekt. Dagegen wehre ich mich auch heute noch wie Räuber Hotzenplotz mit seinen sieben Messern.

Ich mochte es zudem noch nie, wenn ein Fremder versucht, in meiner Seele herumzustochern. Als H. dann noch mit Aura-Soma-Therapie anfing, war für mich erstmal Schluss mit diesen esoterischen Ideengespinsten.

Um das unangenehme Thema abzuwürgen, lästerten wir über die eigenartigen Marotten der ausbildenden Diakonissen: das ewige Bettenmachen in linealgerader Militärmanier, das perfektionistische Anrichten der Speisen damals auf Station und die hochwichtige Pflege der Schnittblumen in den Patientenzimmern. Damit wären wir wieder beim „Grün (hinter den Ohren)“.

Finden

Erst sehr viel später lernte ich die andressierten Marotten zu schätzen. Ich kann noch heute kein ungemachten Bett so sein lassen. Zumindest Kissen schütteln. In einem frisch gemachten Bett, am besten mit frischer Bettwäsche, schläft es sich sehr viel besser. Ob man böse Traumgespenster herausschüttelt, die Ästhetiksinne füttert oder man schlicht und einfach falten- respektive bröselfrei bequemer liegt, ist doch egal. Guter Schlaf ist eine wunderbare, zudem kostenlose Regenerartionsmedizin. Evidenzbasiert!

 Und ich sehe die Freude in den Augen anderer Menschen, wenn ihr Essen, vielleicht sogar aus echten Lebensmitteln hergestellt, hübsch angerichtet ist. Mit Liebe eine schöne Umgebung zum Gesundwerden zu schaffen, ein freundlicher Schwatz, scheinen mehr heilsame Wirkung aufs Gemüt und den Körper zu haben, als ich damals ahnen konnte. Trotzdem sind diese banalen Kleinigkeiten in der Medizin und Pflege fast ausgestorben. Sehr schade!

Was uns dortmals ebenfalls antrainiert wurde, war sorgfältigste Patientenbeobachtung. Nicht nur die messbaren Angelegenheiten wie Puls, Blutdruck, Atemfrequenz, Beschreibung sämtlicher Ausscheidungen, die ein Mensch produzieren kann, sondern auch „wie es Person XY geht“. Das intuitive Erspüren der „alten“ Krankenschwestern von vielleicht kommenden Problemen erschien mir als Grünling beinahe magisch. Und obwohl ich keine logische Erklärung fand, waren diese Ahnungen erstaunlich treffsicher. Den Patienten ging es nach den ebenso seltsamen Interventionen meist besser, und zwar seelisch und körperlich. Das wollte ich auch können.

Heimlich begreifen

So schaute ich mir viel ab, probierte aus, versuchte gleichzeitig, diese heilende Zufriedenheitswürze zwischen den Pflegehandlungen zu verstecken, den Kranken Lebenslust, Leichtigkeit und Hoffnung mitzubringen, an der sie sich ihr Lichtlein anstecken konnten, wenn sie wollten.

Natürlich alles ganz heimlich, ich genierte mich schon. Doch aus mir damals unerfindlichen Gründen funktionierte es: Wendete ich das eigentümliche "Menschlichkeits-Geheimrezept" an, waren die Patienten zufrieden, entspannt, zugänglicher – alles war irgendwie leichter. Arbeitete ich dagegen streng „nur nach Schule“, gestaltete sich vieles schwieriger, den Menschen ging es nicht so gut.

Vielleicht, so vermutete ich, war es das ehrliche Interesse, das die Menschen spürten? Geborgenheit? Oder sowas wie Respekt? Damals hatte ich keinen Schimmer von den Wirkmechanismen. Das alles war aber auf jeden Fall hoch spannend, auch die Tatsache, dass anscheinend jede und jeder etwas anderes brauchten. So begann ich meinen Wortschatz, Tonfall, Duktus und natürlich den Inhalt bei Patientenplaudereien anzupassen.

Auch das sich entwickelnde Gespür für "Was geht?" bei diesem Menschen, "Wann und in welcher Form?", hat mich ein bissel demütiger werden lassen: Nicht alles ist für jeden gut. Alle nach Schema F zu behandeln, bringt unterm Strich – wenn überhaupt – nur mittelmäßige Ergebnisse.

Dennoch weigerte ich mich lange Jahre strikt, an diesen "psychosomatischen Eso-Quatsch" mit den Symptom-Zuordnungslisten zu glauben, geschweige denn, damit zu arbeiten, pochte auf die Schulmedizin, als das einzig Wahre. Mit Verlaub, bis dahin waren mir fast ausschließlich "naturheilkundliche Spinner" begegnet wie H. samt Aura-Soma-Therapie, Globuli und Adlerfedern. Dass aber noch so viel mehr in der Lücke zwischen Spinnerei am einen Ende und mechanistischer Schulmedizin am anderen Ende liegt, habe ich zwar leise geahnt, aber nicht gewagt "in die Hand" zu nehmen oder gar zu benennen. Trotzdem verzweifelt, zweifelnd gesucht.

Erst das Lesen eines (sehr großen!) Regals voller Bücher und Fortbildungen lieferten schubkarrenweise Erkenntnisse und Evidenz, in Folge Erklärungen, warum mein eigentümlich-heimliches, entspannendes "Menschlichkeits-Geheimrezept" wahrhaftig heilungsfördernd wirken kann: Es wendet sich schlicht und ergreifend an das Vegetativum – an den Leib und(!) die Seele der Menschen. Das Licht ist angegeangen. (Erleuchtet bin ich deswegen noch lange nicht ;) Lernen hört nie auf.

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Einverleibt!

Berochen, verkostet, Taugliches gekaut, geschluckt und "einverleibt": Da hatte ich die "Beweise", dass meine Art zu behandeln schon längst eine "psychosomatische" ist!

Hört, sieht und spürt man genau hin, dann zeigt mir ein Körper ganz genau, was er braucht, damit es ihm besser gehen kann. Oder bevor es richtig schlimm wird. Dein Körper ist dein Freund. Ja, wirklich!

Mit dieser psychosomatischen Sichtweise kommen meine Patienten in Pflege und Heilpraktik zurecht. Sehr gut sogar! Ich muss Psychosomatik nicht einmal bei Namen nennen. Sie sitzt zufrieden in meinen Händen, Herz und Hirn – immer mit von der Partie. Sie ist so schön pragmatisch, kreativ, individuell, entspannend und menschenfreundlich. Zudem wissenschaftlich belegt. Und man darf dabei lachen! Keine Hexerei. Oder doch?

Herzliche Grüße!

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© 2022 Manuela Bößel * tangofish